Gerade fand der Herbstball statt, auf den sich bereits alle so gefreut hatten. Jeder hatte einen Verabredung gefunden, so schien es mir. Ich war wohl zu neu, um gefragt zu werden und war sowieso nicht wirklich einer jenen, die feierten, während ihr Freund mit einem Mädchen tanzte, weil es dort nur erlaubt war, mit einem Partner anderen Geschlechts aufzutreten. Und ich hatte keine Begründung für mich selbst gefunden, auch nur darüber nachzudenken, mich diesem Reglement zu fügen und eine Tanzpartnerin zu finden, die mich nur anschwieg oder so viel quasselte, dass mir meine Ohren abfielen. Das war einfach nicht in meinem und wohl auch nicht in Noahs Interesse, selbst wenn ich ihn mehr vermisste, als ich mir erträumen konnte – und ich war schon des Öfteren von Noah getrennt gewesen und hatte diese Zeit durchleiden müssen.
Doch jetzt war es etwas anderes, weil ich wusste, dass Noah Spaß haben würde und sich mit seinen Freundinnen und Freunden gut unterhielt. Jedenfalls hoffte ich das. Oder machte es mir vor. Ich hatte ehrlich gesagt keinen blassen Schimmer, wie es Noah gerade in diesem Moment ging und genau das war es, was mich so fertig machte. Aber ich konnte einfach nicht zu diesem Ball gehen, der für alles stand, gegen das ich war. Diskriminierung, althergebrachtes Klischee-Verpartnern und eben solches Zeug, das in der heutigen, modernen Zeit doch längst nicht mehr aktuell war und nur davon zeugte, dass auch diese Schule noch nichts von Gleichberechtigung gehört hatte.
Am liebsten hätte ich Noah gebeten, bei mir zu bleiben, aber das war mir in diesem Moment, als wir das letzte Mal gesprochen hatten, als zu selbstsüchtig und Spaß verderbend rübergekommen. Schließlich besaß Noah auch ein eigenes Leben, das er leben konnte und sollte. Nicht alles, was mich betraf, musste ihn zwangsläufig auch betreffen. Er war schließlich weder mein Diener, noch war er mein Sklave. Und andersherum war es genauso.
Nichtsdestotrotz überkam mich immer wieder ein ungutes Gefühl, Scham, und flackerte immer wieder auf und ab, wie das stürmische Reißen der Wassermassen während der Flut. Immer wieder in Abständen wie Wellen. Doch ich konnte nichts dagegen tun und musste warten, bis das Gefühl wiederkam, das schwerer auf mir lastete als die Langhanteln, die ich hin und wieder mal benutzte. Wenn ich das auch selten tat, war mir das Gefühl nur allzu bekannt und wäre mir just in diesem Moment weitaus lieber gewesen als das Zerreißen, das ich nun wirklich spürte.
Was Noah wohl gerade tat? Trank er wohl Bowle und saß gemütlich irgendwo? Oder tanzte er mit Ronja und vergaß in diesem Moment alles andere um sich herum? Ob für ihn wohl jetzt gerade nur der eine Moment, die kurze Drehung, die stolze Bewegung des Tanzes, das wilde Getose und Gespiele der Musik von Bedeutung waren? Ich wünschte es ihm. Er sollte heute Spaß haben.
Während ich so herumlief und einen Ort suchte, der mir Ruhe bieten und eine Aktivität bieten konnte, fand ich mich schon bald in einem Gang wieder, den ich nur selten besuchte, vor einer Tür, die ich meiner Erinnerung nach nie zuvor geöffnet hatte. Vor mir befand sich der Bandraum, der einigen Schülern eine Menge Freude bereitete und wirklich hörbare Ergebnisse erzielte. Und vielleicht war ja genau das etwas, was ich gerade brauchte?
Ich war in eine relativ betuchte Familie hineingeboren worden, für die die Kunst liebten und ihren Kindern wohlgesonnen vermitteln wollten. Dies in Form von Zeichnen und Malen – beides Dinge, für die ich überhaupt keine Begabung aufweisen konnte – , aber auch in Form der Musik, welche mir weitaus besser lag und trotz der wenigen Zeit, die ich neben der Schule und viel wichtiger neben Noah noch hatte, noch immer ausübte, wenn auch nur in Form des Singens unter der Dusche oder wenn ich mal alleine in meinem Zimmer war, was beides nur kurze Momente meines Lebens waren.
In all der Zeit jedoch, die ich hier auf der Schule verbracht hatte, was inzwischen doch schon etwas länger war, hatte ich nicht mehr das Instrument spielen können, das ich während meiner frühen Jugend erlernt hatte: das Klavier.
Ich konnte zwar nicht, wie viele erfahrenere Spieler es taten, auf Cembalos oder Clavichorden spielen, war aber kein stümperhafter Klavierspieler mehr und war in der Lage auch mittelschwere Stücke nach nicht allzu langer Übungszeit zu spielen, was aber wohl eher daran lag, dass ich gelenkige Finger besaß und nicht daran, dass ich ein besonderes Talent besäße. Aber damit konnte ich gut leben, da ich nie vorhatte, aus dem Spaß, den ich am Spielen hatte, eine Berufung zu machen, da es mir dann doch auch nicht solch eine Freude bereitete, dass ich mehr als nur immer mal wieder spielen wollte. Professionalität erforderte schließlich harte und langfristige Übungszeiten, die ich nicht aufbringen konnte, geschweige denn wollte. Das war einfach nicht in meinem Interesse und auch nicht in dem der Menschen um mich herum.
Ich drehte den Knauf der Tür, öffnete die relativ schwere und sicherlich aus besonderem, schallabweisendem oder zumindest -dichtem Material Tür und sah vor mir ein kleines Tonstudio, das mit nur einem kurzen Blick erklärte, woran es lag, dass die Ergebnisse, die bei Arbeiten in diesem Raum herauskamen, so gut waren. Dies war wirklich mehr, als ich erwartet hatte!
Schnell schaute ich mich um, um ein Klavier zu finden und fand im Aufnahmeraum ein edles, glänzendes Klavier in schwarzer Farbe. Doch es war nicht einfach nur ein Pianino, sondern ein wirklicher Flügel, dessen Klangfarbe mit großer Sicherheit eine Kraft besaß, das dem Zuhörer das Herz aufgehen musste, spielte ein noch so unwissender Spieler an ihm. Das war wirklich ein Klavier, das ich mir buchstäblich mein Leben lang gewünscht hatte.
Nach einigen Momenten des Staunens ging ich näher an es heran, erkannte die leichten goldenen Musterungen, die gebogene und gezogene Formen hervorstechen ließen und außerdem einen Schriftzug zierten, der mir nur zu bekannt war. Ein wirklich gutes Klavier musste es sein. Wie viel es diese Schule wohl gekostet hatte? Es war sicherlich keines gewesen, das man sich so eben leisten konnte. Nicht einmal als Sprössling einer gut betuchten Familie. Und hier stand es. Direkt vor meinen Augen und die letzten Monate vor ihnen versteckt, als wäre es gar nicht da. Wie war es nur möglich gewesen, dass ich nichts von diesem Meisterwerk wusste?
Erst jetzt fiel mir auf, dass ich mich wie ein echter Freak anhören musste. Wäre jemand anderes in diesem Raum gewesen und hätte zugehört, während ich das gedachte Wort aussprach, so hätte er wahrscheinlich an meiner Intelligenz oder Zurechnungsfähigkeit gezweifelt. Aber ein Klavierspieler, egal wie gut er war, musste dieses Instrument einfach mit den Augen betrachten, wie ich es in diesen Momenten getan hatte. Und es hatte es vermocht, dass ich zumindest kurz nicht an Noah dachte. An meinen Noah.
Inzwischen war es sicherlich Abend geworden und der Herbstball war wohl schon reichlich gefüllt. Das hieß für mich, dass ich Noah jetzt nicht mehr erreichen können würde. Und das brach mir beinahe das Herz. Nie, nicht einmal in der Schule, war er für mich nicht erreichbar. Aber jetzt gerade war er es. Das war eine völlig neue Erfahrung. Und die wollte ich nach diesem Abend nicht erneut machen müssen. Niemals wieder.
Erneut wandte ich mich dem Flügel zu und sah einen kleinen Hocker vor der Pedal-Vorrichtung, den ich rasch zurückschob, um Platz darauf zu nehmen und meine Finger über die Tasten schweben zu lassen. Jede einzelne Taste zog meine Finger an wie ein Magnet ein Stück Eisen. Und mit jeder weiteren Taste wurde das Verlangen, dem Zug nachzugeben, stärker und stärker. Ohne zu warten, eilte ich zu einem der Schränke und fand genau das, was ich suchte. Und als wollte es das Schicksal so, öffnete ich die richtige Seite beim ersten Versuch. I dreamed a dream, echote der Titel des Stücks, das sich nun vor mir ausbreitete wie ein Tintenfleck auf einem Stück Filterpapier, und ließ mein Herz in Wallung geraten. Es war das letzte Stück gewesen, das ich gelernt hatte, bevor ich auf diese Schule kam. Man hatte es mir als besonders wertvoll und schön eintrichtern wollen, hatte es aber gar nicht zu erzwingen gebraucht. Schon nach dem ersten Spielen war ich den Tönen verfallen gewesen und hatte das Stück in mein Herz geschlossen wie einen geliebten Menschen. Und nun kehrten all die Erinnerungen an dieses Prachtwerk zurück, das mir solch eine Ekstase schaffen konnte, die ich sonst nur bei Noah spürte. Bis zu der Zeit mit Noah war es der stärkste Einfluss auf meine emotionale Welt gewesen. Und nun kam es direkt nach ihm. Es war einfach schön anzuhören und ließ den Spieler in einen Moment der Trauer verfallen, auf den ein Moment des Glücks folgte, weil man allen Kummer über die Lippen und Finger in die Welt hinaus ließ und sich von ihnen befreite wie von schweren Ketten der Qual.
In diesem Moment gab ich mich der geradezu magischen Kraft der Tasten hin und drückte die ersten Tasten – ein D, gefolgt von einem D/C# und daraufhin ein Bm. Bm A G A.
Und dann kam der Moment, in dem ich die Augen schloss und nur daran dachte, wie sehr mir Noah fehlte. Normalerweise sang dieses Stück eine Frau mit einer relativ hohen Stimme. Doch das war mir egal. Es hörte mich niemand. Und selbst wenn. Mir war egal, was man gerade über mich dachte. Hier waren nur die Musik, die erklang, und ich, der sie in einer ihrer ältesten Funktionen nutzte. Als Ventil, als Möglichkeit sich der Welt mit Harmonie zu öffnen. Als einzig wahres Wort, das nun erklang.
»There was a time when men were kind«
Eine Zeit, in der Männer freundlich waren. Dieser Vers war Vergangenes. Gefühltes. Und Nicht-Wiederkehrendes. Aber es war wahr, wenn man das Stück kannte, in der all der Schrecken geschah, den Fantine erleiden musste. Jene, die es in dem Stück sang.
»When their voices were soft
And their words inviting
There was a time when love was blind
And the world was a song
And the song was exciting
There was a time
Then it all went wrong«
Als ihre Stimmen sanft waren und ihre Worte einladend, gab es eine Zeit, in der Liebe blind war. Und die Welt war ein Lied. Und das Lied war aufregend. Es gab eine Zeit. Und dann veränderte sich alles zum Schlechten.
Ich spürte geradezu den Schmerz, den Fantine beim Singen des letzten Verses spüren musste. Es wurde schlecht. All das Vergangene veränderte sich zum Jetzigen und wurde schlecht. So wie es schlecht war, dass Noah nicht bei mir war, dass ich nicht bei ihm war, dass ich so ein Idiot gewesen und einfach nicht gegangen war, nur weil ich nicht den alten Statuten folgen wollte, die diese Schule nicht einmal konsequent vertrat, sondern nur mal bei so einem Ball. Es wäre nichts dabei gewesen, wenn ich dorthin gegangen wäre. Keine Niederlage der Schwulen, nur weil mal ein schwules Paar nicht zusammen auftreten konnte, das sowieso nie offen auftrat. War es wirklich schlimm für mich gewesen, dass ich nicht zusammen mit Noah dahingehen durfte? Oder weil ich, selbst wenn wir es gekonnt hätten, es wohl nicht gekonnt hätte? Es war einfach scheiße, dass wir uns verstecken mussten, weil wir Angst haben mussten, dass es Noahs oder mein Leben zur Hölle machen konnte. Wieso konnte das nicht egal sein? Wieso mussten wir uns immer verstecken?
»I dreamed a dream in time gone by
When hope was high
And life worth living
I dreamed that love would never die
I dreamed that God would be forgiving
Then I was young and unafraid
And dreams were made and used and wasted
There was no ransom to be paid
No song unsung, no wine untasted«, war die zweite Strophe, die ich sang. Und nun mischten sich neben des Vermissen noch Trauer und Zweifel hinein. Ich vermisste Noah, trauerte, weil er nicht bei mir war, und zweifelte, weil wir nicht so offen zusammen sein konnten, wie es alle anderen, „normalen“ Paare durften. Alle. Nur wir nicht. Jedenfalls schien es mir so zu sein.
Eine kleine Träne, welche mir aus all dem Wirrwarr der Emotionen aufkam, rollte meine linke Wange hinunter und ließ einen Teil der Emotionen frei.
»But the tigers come at night
With their voices soft as thunder
As they tear your hope apart
As they turn your dream to shame«
Die Hoffnung war weg, der Traum nun Schande und Fantine spürte wohl all die Verzweiflung, die ich nicht im Entferntesten nachempfinden konnte. Ich hatte Noah. Das war das Wichtigste. Selbst wenn wir uns versteckten und er gerade nicht bei mir war. Es war nur ein Abend. Und er war sonst immer bei mir. Auch wenn es mir schwerfiel, musste ich jetzt einfach dadurch. Und ich musste dieses Lied zu einem Ende führen, das es verdiente, selbst wenn es nicht fröhlicher wurde. Aber das passte ja zu meiner Gefühlslage, selbst wenn sie etwas besser war als noch eine Strophe zuvor.
»He slept a summer by my side
He filled my days with endless wonder
He took my childhood in his stride
But he was gone when autumn came«
Einen Sommer lang bei ihr und im Herbst war er weg. Das würde Noah und mir nicht passieren. Wir hatten Zeit zusammen. Uns würde keine Revolution voneinander trennen. Ich würde ihm überallhin folgen. Egal was das Ziel war. Einen Zweifel daran gab es nicht. Wenn es auch das Einzige ohne Zweifel war. Da war ich mir sicher.
»And still I dream he'll come to me
That we will live the years together
But there are dreams that cannot be
And there are storms we cannot weather«
Möglicherweise würde er wieder zu Fantine zurückkehren. Das Stück an sich kannte ich nicht in seiner ganzen Form, hatte nur immer gehofft, dass ihr Traum in Erfüllung ging und sie endlich wieder mit ihrer großen Liebe vereint sein konnte. So wie ich mit Noah vereint war. Er war schließlich nur einige hundert Meter oder so von mir entfernt.
»I had a dream my life would be
So different from this hell I'm living
So different now from what it seemed
Now life has killed the dream I dreamed.«
Früher hatte ich diese Aussage am Ende meines Spielens bejaht und war dennoch wieder frei von Trauer und Zweifeln. Doch jetzt konnte ich es nicht mehr bejahen. Obwohl ich nicht mehr den Luxus von früher hatte, war ich glücklicher als je zuvor. Mein Leben war keine Hölle. Es war großartig mit Noah. Ich liebte ihn mehr als je etwas anderes. Ich liebte ihn mehr als ich je jemanden zu lieben erwartet hatte. Ich liebte ihn mehr als meine ganze Welt, die mein Leben war.
Inzwischen hatten sich mehr als eine Träne auf meinem Gesicht ihren Weg zum Boden gebahnt und liefen am meinem Kinn zusammen. Schnell putzte ich die Flüssigkeit mit meinem Ärmel ab, zog mein Handy aus der Hosentasche und schrieb Noah einfach, selbst wenn er es möglicherweise erst später lesen würde:
Hi Noah,
erst einmal: ich liebe dich.
Ich hoffe, du hast riesigen Spaß auf dem Herbstball und vermisst mich nicht zu sehr. Wenn du Lust hast, kannst du gerne im Bandraum vorbeischauen, wo ich auf dich warte. Auch in ein paar Stunden noch, wenn du etwas länger brauchst.
Ich liebe dich und hoffe, dass ich dich gleich sehe.
Schnell las ich mir die SMS noch mal durch, nickte sie symbolisch ab und drückte auf „Senden“, womit sie sogleich auf Noahs Handy geschickt wurde. Ich konnte nur hoffen, dass er die SMS bald lesen würde. Aber selbst wenn nicht, wäre es okay, denn ich wusste dann erst recht, dass er viel Spaß hatte. Wobei ich ihn gerade doch gerne sehen wollte. Nur zu gerne.